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    Das Buch von hinten lesen können, bevor es geschrieben wurde

    „Das konnte man doch alles nicht vorhersehen…“, hieß es im Herbst 2020 kurz vor dem zweiten und ein Jahr später erneut vor dem vierten Lockdown. Wenige Zeit zuvor, im Sommer 2021, hatte der damalige österreichische Bundeskanzler die Pandemie – wohl recht kurzsichtig – für beendet erklärt.

    „Das Buch von hinten lesen ist immer einfacher“, beschwichtigt der Tiroler Landeshäuptling. Ganz ehrlich? Für mich ist diese viel bemühte, um Verständnis heischende Floskel nichts anderes als ein Versuch der Politik, sich aus der Verantwortung zu stehlen. „Können oder wollen die das nicht… in die Zukunft schauen?“, frage ich mich seit dem Ausbruch der Pandemie immer wieder.

    Die Menschheit war im Laufe ihrer Geschichte durchaus bereits das ein oder andere Mal gefordert und hat sich noch nie da gewesenen Krisen gegenübergesehen. Dass wir immer noch existieren, sollte hinlänglich als Beweis dafür dienen, dass die Bemühungen unserer Ahnen, diesen Krisen zu begegnen, letztendlich von Erfolg gekrönt waren. Der Schlüssel der gesamten Evolution, im Kleinen wie im Großen, liegt in der Fähigkeit der Anpassung bei Veränderungen. Wer sich an Veränderungen nicht anpassen kann, stirbt aus.

    Was genau braucht es nun, um Veränderungen im eigenen Lebensabschnitt überhaupt zu erkennen und Möglichkeits-Szenarien vorauszudenken? Ich glaube, es braucht dazu wenigstens die menschliche Phantasie sowie die Fähigkeit, von der Zukunft her in die Gegenwart denken zu können! Quasi also Dinge vorwegzunehmen, die noch gar nicht passiert sind, deren Eintreten aber kalkuliert oder zumindest erahnt werden kann. All das sind Fähigkeiten, die man übrigens auch genauso für die Software-Programmierung benötigt.

    Ich war gerade 12 Jahre alt, als ich auf einem Commodore64 Heimcomputer zu programmieren lernte. Während die meisten meiner Freunde den deren Heimcomputer für Computerspiele verwendeten, war ich mehr daran interessiert herauszufinden, wie dieser wegen seines Designs häufig genannte „Brotkasten“ von innen her funktioniert – und erlernte dabei gleichzeitig die Fundamente der IT. 1994 programmierte ich meine erste HTML-Seite und lernte die Grundlagen des Internet und der Webentwicklung. Wieder zurückgedacht wurde der C64 also zum Grundstein meines weiteren beruflichen Werdegangs – ich wollte „irgendwas mit Computer“ machen, wenngleich dieser Wunsch damals sehr „unscharf“ war.

    Coding förderte bei mir stets die Phantasie – ich habe dadurch gelernt linear zu denken: in „if-then-else“-Szenarien. Aber auch genauso nichtlinear: Divergentes Denken beflügelte meine Kreativität und manifestierte sich bei mir in Form von elektronischer Musik und Multimedia Werken. Anfangs reicht oft nur eine vage Vorstellung, was entstehen könnte. Und so wurden aus Gedanken und Coding dann beispielsweise Computerprogramme, Websites, Apps oder ein Musikstück. So wie ich, sind viele Developer: interdisziplinär, musikalisch kreativ, manchmal vielleicht auch etwas zerstreut und unstrukturiert, ein anderes mal wieder extrem fokussiert. Eines scheint fix: „Nerds“ finden immer wieder Lösungen für neue Aufgaben und Herausforderungen.

    Jeder Mensch trifft jeden Tag Entscheidungen auf Grundlage von Wahrscheinlichkeitsberechnungen. Beim Autofahren, im Job, bei der Partnerwahl, beim Einkaufen in allen Lebensbereichen lesen wir das Buch von hinten. Keiner von uns weiß, was am Ende des Tages passiert sein wird – aber wir könnten nicht existieren, wenn wir es uns nicht zumindest stetig vorstellen würden. Dass man „ein Buch nicht von hinten lesen kann“ ist also meiner Erfahrung nach weder ein plausibler Grund für falsche oder aber nicht getroffene Entscheidungen, noch für die Folgen, die daraus entstehen.

    Programmierer versuchen, alle möglichen Fehler vorherzusehen und rechtzeitig abzufangen. Wenn das Programm einmal gestartet ist und Fehler oder unerwartete Bedingungen auftreten, werden die Funktionen und Programmcodes umgehend aktualisiert. So entsteht ein endloser Verbesserungskreislauf, der bspw. in der Web-Entwicklung als „Continuous Relaunch“ bekannt ist: Wer klug ist, wartet nicht ein bis zwei Jahre, bis eine Website total veraltet ist, sondern entwickelt und optimiert diese während des Betriebs laufend weiter.

    Dieses Beispiel aus der Welt des Codings lässt sich auf alles übertragen: Eine zukunftsgerichtete Politik (und anders kann und darf Politik nicht sein) sowie eine nachhaltige Wirtschaft bedingen es, Zusammenhänge zu erkennen, zu verstehen und auf der Basis dieser Erkenntnisse Entscheidungen vorab zu treffen – eben bevor es zum Absturz kommt. Dabei gilt das Prinzip der Verkettung: Keine App und keine Funktion in einer Software existieren für sich alleine. Es geht um Zusammenhänge. Und die werden meiner Meinung nach in der „realen“ Welt oft nicht so ganz erkannt: Insbesondere in den letzten Monaten der Pandemie zeigte sich, wem das politische System wirklich dient: Sich selbst. In der Software würde man in diesem Zusammenhang von einem fundamentalen Fehler im Systemcode sprechen. Und ein Fehler in einem geschlossenen System führt – wenn er latent nicht erkannt wird – zu einer Fehlerkette oder einem Systemcrash.

    Wir brauchen in der Politik wieder mehr Menschen, die sowohl linear als auch divergent denken können. Wir brauchen quasi „Programmierer“, die die Fähigkeit haben, das Buch sehr wohl von hinten lesen zu können. Krisen lassen sich nicht im Detail vorherberechnen, aber durchaus vorausdenken. Das Modell des Entscheidungsbaums (if-then-else) ist eine recht simple Methode dazu. Würde man wollen, dann wäre es auch gar nicht notwendig, von einer scheinbar nicht-vorhersehbaren Situation in die nächste zu stolpern. Wir wären nicht länger passive Mitläufer, sondern aktive Gestalter. Wir würden unser Buch selber schreiben – und wer selber schreibt, kann den Verlauf der Geschichte mitbestimmen.

    Text: Christian Fohrmann – Alpinmarketing / Sonja Niederbrunner – Storylines

    Foto: Perfecto Capucine von Pexels

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